In Deutschland erhalten die Stromversorger ab 2024 die Kompetenz, den Stromverbrauch ihrer Kundinnen und Kunden bei drohenden Netzengpässen über einen Ferneingriff zu beschränken, wenn gleichzeitig viele Elektrofahrzeuge geladen werden und die Wärmepumpen laufen. Ein Tesla-Besitzer könnte sein Auto dann nur noch so lange laden, bis die Batterie für 50 Kilometer reicht, berichtete die NZZ kürzlich.
Das heutige Verteilnetz muss stark ausgebaut werden
Ist dieses Szenario auch in der Schweiz denkbar? «Mittelfristig kann es auch bei uns zu solchen Situationen kommen, wenn der Netzausbau und die dafür notwendigen Bewilligungsverfahren nicht deutlich beschleunigt werden», sagt Andreas Ebner, Geschäftsleitungsmitglied bei BKW Power Grid. Dies, weil das heutige Verteilnetz nicht auf die Energiewende ausgelegt sei und stark ausgebaut werden müsse. Nicht nur der steigende Stromverbrauch durch die Dekarbonisierung des Individualverkehrs und des Wärmebedarfs belastet das Netz zusätzlich, sondern auch die starke Zunahme der Einspeisung von Solarstrom.
Gemäss der vom Bundesamt für Energie (BFE) erstellten Verteilnetzstudie belaufen sich die Verteilnetzausbaukosten bis 2050 im Basis-Szenario auf 30 Milliarden Franken. Im ungünstigsten Szenario aus Sicht der Verteilnetze drohen gemäss Studie sogar Ausbaukosten von bis zu 66 Milliarden Franken. Diese Kosten tragen letztlich die Konsumentinnen und Konsumenten über entsprechend höhere Netzgebühren. «Wir kommen bei unseren Berechnungen auf ähnliche Werte. Deshalb ist es aus unserer Sicht essenziell, dass jetzt eine Diskussion zum ganzheitlich optimierten Gesamtsystem bestehend aus Energie-Erzeugung, Verteilnetze, Stromverbrauch und Energie-Speicherung geführt wird», sagt Andreas Ebner. Diese Diskussion sei umso dringlicher, als es zur Stromversorgung viele Missverständnisse gebe.
Mit Peak Shaving die Ausbaukosten begrenzen
«Viele Personen wollen einen persönlichen Beitrag zur Klimawende leisten und investieren in Solarpanels, Ladestationen und Wärmepumpen. Wir unterstützen diese Bemühungen.» Entgegen der gängigen Meinung wird das Verteilnetz dadurch aber nicht entlastet. Denn die lokale Stromproduktion ist praktisch nie gleich gross wie der gleichzeitige Strombedarf. Das heisst, dass kurzfristig zu viel produzierter Strom z.B. aus Photovoltaik über das Netz abgeführt werden muss. Und nachts, wenn die Solarpanels keinen Strom produzieren, braucht es Strom aus dem Netz, um etwa Elektroautos zu laden. Damit das Netz nicht überlastet und zum Sicherheitsrisiko wird, muss es zu jeder Zeit auf die maximal mögliche Leistung ausgelegt sein. Hier müsse man ansetzen, um die Ausbaukosten möglichst zu begrenzen, sagt Andreas Ebner.
Die BKW schlägt seit längerem vor, die Netzeinspeisung von Solaranlagen auf 70 Prozent der installierten Leistung zu begrenzen. So liessen sich bei geringerem Netzausbau mehr Solaranlagen ans Netz anschliessen und es stände dadurch mehr Solarenergie zur Verfügung. Da Solaranlagen nur an wenigen (Sommer)Tagen auf Volllast produzieren, würde dieses sogenannte Peak Shaving nur zu geringfügigen Einschränkungen führen. Und für die Besitzerinnen der entsprechenden PV-Anlagen wäre die abgeriegelte Leistung nicht verloren. Sie müssten diesen Strom aber selber nutzen oder in einer Batterie speichern. Hingegen liessen sich die Netzausbaukosten deutlich reduzieren.
Für eine erfolgreiche Energiewende braucht es Rahmenbedingungen, die der heutigen Energielandschaft angepasst sind und auch die Verteilnetze berücksichtigen. Dabei sind die Ziele und Anreize der Teilbereiche Energie-Erzeugung, Verteilnetze, Stromverbrauch und Energie-Speicherung so aufeinander abzustimmen, dass unterschiedliche individuelle Lösungen das Gesamtsystem nicht zusätzlich belasten. «Zudem brauchen wir ganz viele neue Netzelektrikerinnen und Netzelektriker, um den Netzausbau dann auch realisieren zu können. Diese braucht es für die Energiewende ebenso sehr wie Solarteurinnen und Solarteure», sagt Andreas Ebner.