Es herrscht ein reges Treiben auf dem früheren Industrieareal im luzernischen Emmenbrücke: Schwere Lastwagen führen Schutt von der Baustelle weg, Ingenieure diskutieren auf den Strassen Pläne, dazwischen fotografieren Kunststudenten die postmoderne Szenerie. Der auswärtige Beobachter realisiert schnell: Hier geschieht etwas ganz Besonderes. «Wir wollen etwas Nachhaltiges schaffen – und zwar in mehreren Belangen: ökologisch, ökonomisch, sozial, gesellschaftlich.» Dies sagt Alain Homberger. Der 65-jährige Unternehmer ist als Verwaltungsratspräsident und Geschäftsführer der Viscosistadt AG die Schlüsselfigur in einem der bemerkenswertesten Bauprojekte der Schweiz. An der nördlichen Peripherie Luzerns, auf dem Seetalplatz, entsteht ein neues Quartier. Bei der Fertigstellung soll es 1500 Wohnungen und 4800 Arbeits- und Studienplätze umfassen und Arbeit, Bildung, Kultur und Wohnraum zusammenführen – ergänzt mit einem 16‘000 Quadratmeter grossen Park direkt an der kleinen Emme.
Ein durchdachtes Energiekonzept
Dank der neugegründeten Wärmeverbund Seetalplatz AG wird das gesamte Areal zu 93 Prozent mit erneuerbarer Energie gespeist. «Es vermittelt ein gutes Gefühl, Energie aus nachhaltigen Ressourcen zu beziehen», sagt Homberger. Verantwortlich für die Umsetzung dieser modernen Energielösung ist Reto Zihlmann. Er leitet die Abteilung Heizung bei der Schmid Amrhein AG, einem Unternehmen aus dem Netzwerk der BKW Building Solutions. Der Fachmann erklärt das komplexe Verfahren in einfachen Worten: «Wir nutzen das Grundwasser und die Abwärme der Industrie als Energiequellen.» Dabei wird Grundwasser aus den Brunnen der Monosuisse AG in die Wärmezentrale im Untergeschoss der Industrieanlagen gepumpt. Die Wärme des Wassers und die Abwärme der Industrie heizen in einem anderen Kreislauf mittels Wärmepumpen Wasser auf, das über Fernleitungen zu den einzelnen Gebäuden geleitet und zum Heizen verwendet wird. Danach fliesst es zurück zur Wärmezentrale. Analog zum Kreislauf mit warmem Wasser besteht ein Kaltwasserkreislauf zur Kühlung. Der Strom kommt ebenfalls aus einer erneuerbaren Quelle: Die grossen Wärmepumpen werden unter anderem mit Solarenergie aus der hauseigenen Photovoltaik-Anlage betrieben.
Ökologisch und regional
Bei diesem Prozess wird auf die Infrastruktur der früheren Viscosuisse zurückgegriffen, die auf dem Areal über Jahrzehnte Viscose hergestellt hatte. Der Name Viscosistadt ist eine Hommage an diese Zeiten. Werner Häller, Geschäftsführer der Monosuisse AG und deren Tochter, der Wärmeverbund Seetalplatz AG, erklärt: «Im grossen Kesselhaus wurde 30 Jahre lang mittels eines Öl/Gas-Heizsystems Wasserdampf für die Garnproduktion und die gesamte Gebäudeheizung auf dem Areal produziert. Diese alten Anlagen entsprechen nicht mehr dem Stand der Technik, sind sehr ineffizient und verursachen viele Emissionen.» Künftig wird der Dampf nur noch gezielt dort eingesetzt, wo man ihn auch wirklich braucht: bei der Garnproduktion. Durch das Fernwärmenetz soll das Quartier Seetalplatz jährlich mit rund 25 Gigawattstunden ökologischer und regionaler Energie versorgt werden. Dies entspreche einer jährlichen Einsparung von rund 5800 Tonnen CO2 im Vergleich zur früher verwendeten Gas- und Dampftechnik. «Der Wärmeverbund Seetalplatz bietet wirtschaftliche und ökologische Energie, die das ganze Jahr sowohl zum Heizen als auch zum Kühlen verwendet werden kann», sagt Werner Häller zu diesem Punkt.
Zu den ersten Mieterinnen auf dem neuen Areal zählt die Hochschule Luzern, die als einziges Bildungsinstitut in der Schweiz das Studienfach Textildesign anbietet. Gabriela Christen, die amtierende Direktorin des Departements Design und Kunst, streicht die Synergien heraus, die sich an den Schnittstellen zwischen Industrie, Forschung und Schule erzeugen lassen: «Wir verstehen uns als Gestaltungsraum für Menschen, die etwas verändern wollen. Hier profitieren wir von kurzen Wegen, einer modernen Infrastruktur und der Möglichkeit, interdisziplinär zu arbeiten. So lassen sich digitale Technologien, traditionelles Handwerk und kühne unternehmerische Konzepte ideal kombinieren.» Ein Projekt zum Nachahmen. Vor allem in Sachen Energiegewinnung setzt das Areal Massstäbe. Reto Zihlmann: «Würde es in der Schweiz 8000 solche Anlagen geben, könnten wir CO2-neutral leben.» Die Nachhaltigkeit zahle sich aus, ist auch Alain Homberger, überzeugt. Der weitgehende Verzicht auf fossile Energieträger sei ein wichtiger Schritt für die «Evolution im Einklang mit Ökologie und Ökonomie». Homberger und seine Mitstreiter weisen den Weg – und finden die Balance zwischen gestern und heute.
Experten-Netzwerk
Mit über 50 Unternehmen bietet die BKW Building Solutions vielseitige Dienstleistungen in den Bereichen Gebäudetechnik, Gebäudeautomation sowie IT. Und das alles äusserst unkompliziert aus einer Hand.