6:00 Uhr, Willigen
Hansjörg von Bergen ist Frühaufsteher. Sein Arbeitsweg über die Passstrasse zum Grimsel Hospiz auf knapp 2000 Meter Höhe dauert rund 30 Minuten – wenn viele Velo- oder Töff-Fahrerinnen und -Fahrer unterwegs sind schon mal über eine Stunde. Der 48-Jährige stammt aus der Gegend und verkürzt uns die Fahrt mit Geschichten aus der Region: vom Wirt des alten Hospizes und seinem legendären Versicherungsbetrug, von Napoleon und vom alten Säumerweg, neben dem wir nach oben fahren. Vorbei am Kiosk Känzli – «dort gibt’s die besten Nussgipfel», sagt er – biegen wir rechts auf den Seeuferegg-Damm, der den Grimselsee staut. Runter geht’s vor die Spitallammstaumauer – Lamm bedeutet Schlucht. Dort unten, direkt vor der neuen Mauer, liegt das Betonwerk.
6:35 Uhr, Installationsplatz, Betonwerk
Der Blick nach oben ist atemberaubend: 113 Meter hoch, doppelt gekrümmt, schmaler und eleganter als die alte Mauer. Genauso beeindruckend: Die beiden knallroten Spezialkräne: 95 Meter hoch, 75 Meter Ausleger und eine Hebekraft von 20 Tonnen. Bei Wind – und davon gibt es viel an der Grimsel – schwanken sie gehörig hin und her. «Wer hier arbeitet, darf keine Höhenangst haben», sagt Hansjörg. «Im Winter, wenn unten zu viel Schnee liegt», meint er, «müssen die Kranmonteure für Unterhaltsarbeiten mit dem Drahtseil von der Staumauer in die Kabinen». Da oben kann es auch Mitte August schon wieder schneien. Im Winter, Mitte November bis Mitte April, ist Baupause. Überhaupt, das Wetter: Die Baustelle hat ihren eigenen Lawinen- und Wetterdienst. Ungeplante Unterbrüche gab’s trotzdem nur eine Handvoll: «Wenn man bei Nebel keine 50 Meter mehr sieht, ist Schluss – aus Sicherheitsgründen.»
7:16 Uhr, neue Staumauer, Kronenplatte A
Heute wird auf der gegenüberliegenden Seite direkt am Berg die Kronenplatte, also der letzte Block, betoniert. Hansjörg und sein Tandem Mario prüfen die Armierungen oben an der Krone. Die Mauer selbst kommt – dank doppelter Krümmung – ganz ohne Stahlarmierung im inneren aus, da «nur» Druckkräfte wirken. Daumen hoch, alles passt. Jetzt kann der Beton kommen – mit einem der Spezialkräne direkt von unten aus dem Betonwerk. Hansjörg schaut genau hin und spricht mit dem Polier und seinem Team – auf Italienisch. Spanisch spricht er auch ein wenig – immer noch kommen die meisten Bauarbeiter aus Italien, Spanien, Portugal oder aus dem Osten. «Ich höre den Begriff kontrollieren nicht gern», sagt er. Wir Bauleiter sind zur Unterstützung da und um technische Probleme zu lösen.» Da hilft, dass er selbst als Maurer angefangen und 13 Jahre als Polier gearbeitet hat. Vor sechs Jahren hat er die HF-Ausbildung zum Bauführer abgeschlossen. «Ich bin schon als Kind lieber auf die Baustelle zu meinem Vater als in die Badi», schmunzelt er. «Vor zwei Jahren habe ich eine Baustellenführung mitgemacht. Ab da war klar, hier will ich mitanpacken.»
9:45 Uhr, Kaffeepause
Bauleiterkollegin Aurélie hat selbstgemachten Blaubeerkuchen mitgebracht. Sie ist die Spezialistin für die Wasserstahlbauten am Grundablass. Am Kaffeetisch im Baubüro werden noch Termine besprochen, dann geht’s schon wieder weiter. Auf der Agenda steht eine Sicherheitsbegehung. Wir tauschen die Jacke gegen einen Overall und Stirnlampen – es wird wohl nass und dunkel.
10:00 Uhr: unter Tage in der Mauer
Im Viererteam geht’s mit dem Lift in der Mauer nach unten. Die Kontrollgänge mit ihren diversen Schächten, Quergängen und Abzweigungen müssen abgegangen werden. Irgendwann wechseln wir in die alte Mauer, dann zu den Vorbereitungsstollen fürs geplante Pumpspeicherwerk Grimsel 4. Ein Labyrinth. Das Sicherheitsteam, zu dem auch Vertreter der Baufirma Frutiger gehören, spricht mit den Arbeitern, protokolliert und fotografiert mit dem Handy. Wir kommen immer wieder an Messpunkten in der Wand vorbei und an Schächten für die Schwimm- und Lot-Pendel. Die Mauer wird später genauestens überwacht – jede noch so kleine Bewegung registriert.
13:35 Uhr, Neue Mauer, Block N
Zurück über die alte Mauer zur neuen. Es steht wieder eine Betonierfreigabe an. Diesmal auf einem Block, der etwa in der Mitte liegt. Jetzt ist Klettern angesagt: Es geht mehrere Leitern rauf und runter. Hansjörg und Marco messen, ob die Kühlleitungen lang genug sind. Diese werden mit einbetoniert und kühlen später mit Seewasser den Beton, damit dieser nicht zu schnell abbindet und Risse bekommt. Wichtig ist auch, dass der Greencut korrekt vorgenommen wurde – so nennt sich ein Verfahren, mit dem die Oberfläche des noch frischen Betons abgewaschen wird, um für den darüberliegenden Block einen bestmöglichen Verbund zu generieren. Nach rund eineinhalb Stunden sind wir fertig – es geht wieder zurück.
14:59 Uhr, Hospiz, Baubüro
Nach über 10’000 Schritten und mehr als 8 Kilometern sind wir wieder im Baubüro angekommen. Auf Hansjörg wartet jetzt noch Papierkram: Kalkulationen, neue Pläne, Bestellungen, Absprachen und vieles mehr. Am 3. September wird der letzte Block betoniert. Im Dezember wird dann der See komplett entleert, durch den Winter werden die Anschlussarbeiten ausgeführt und ab April wird wieder gestaut. Die alte Mauer, die unter Heimatschutz steht, wird durchbohrt und geflutet, bleibt aber als Wanderweg erhalten. Dann ist nach sechs Jahren Bauzeit alles fertig.
16:55 Uhr, Heimweg
Von der Hospiz-Tiefgarage zurück nach Meiringen. Wir haben Glück, der Verkehr hält sich in Grenzen – es ist eben ein ganz normaler Arbeitstag. Was macht er eigentlich, wenn der Staudamm fertig ist? «Die Staumauer erhöhen», meint Hansjörg lachend. Klar wäre es effizienter gewesen, gleich höher zu bauen, aber noch steht die Genehmigung aus. Immerhin ist schon alles für eine Erhöhung vorbereitet. Und dann ist da noch Grimsel 4 und – vielleicht – das Projekt Trift. Es gibt noch viel zu tun.
Eine Baustelle der Superlative: Mineure, Bauarbeiter, Mechaniker, Elektriker, Maschinisten und Strassenarbeiter sind hier beschäftigt.
Für die KWO, die Kraftwerke Oberhasli, an denen die BKW zu 50 Prozent beteiligt ist, sorgen drei Bauleiter, eine Bauleiterin und der Chefbauleiter dafür, dass das Megaprojekt reibungslos über die Bühne geht. Hansjörg von Bergen ist als Bauleiter für alles unter Tage, also in der Mauer, zuständig und Spezialist für Injektionsbohrungen.
Weitere Infos: Fakten, Videos und mehr
Grosse Staumauern werden in der Schweiz nicht mehr allzu häufig gebaut – die Ersatzstaumauer Spitallamm an der Grimsel im Berner Oberland ist eine dieser wenigen. Die Kraftwerke Oberhasli AG ersetzen von 2019 bis 2025 die bestehende Staumauer mit einer neuen. Die alte Mauer ist sanierungsbedürftig, sie bleibt jedoch erhalten und wird später geflutet. Vor rund 90 Jahren war der Bau der alten Staumauer spektakulär – das ist auch diesmal, beim Bau der neuen Mauer, wieder der Fall. Mit dem Ersatzneubau der Spitallamm Mauer stellt die KWO sicher, dass das Wasser aus dem Grimselsee langfristig ohne Einschränkung für die Stromproduktion genutzt werden kann.
Alles Wichtige rund um den Ersatzneubau der Staumauer Spitallamm finden Sie auf dieser Seite.