In der Energiewende nimmt Erdgas als Übergangstechnologie hin zu erneuerbaren Energiequellen eine wichtige Rolle ein. Die flüssige Form – Flüssigerdgas – steht im internationalen Energiehandel besonders im Fokus. Es wird wie andere Energieträger an länderübergreifenden Märkten gehandelt. Das weltweite Angebot und die Nachfrage bestimmen die Preise. Einfach gesagt: Wenn das Angebot an Erdgas grösser ist als die Nachfrage, sinken in der Regel die Gaspreise – und umgekehrt.
Das ist auch für die BKW wichtig: Sie ist an zwei Gaskraftwerken in Italien beteiligt, die zusammen rund 8 Prozent (260 Megawatt) des von der BKW produzierten Stroms erzeugen. Ausserdem liefert die BKW in der Schweiz Gas an Immobilienunternehmen, Industriebetriebe, KMU und Gasversorgungsunternehmen. Die dafür benötigten Mengen an Erdgas beschafft die BKW an den internationalen Grosshandelsmärkten. Im Rahmen dieser Bewirtschaftungsaufgabe kommt der Einschätzung der Lieferflüsse von LNG nach Europa eine zentrale Rolle zu. Deshalb hat das Team Analyse Handel der BKW hierfür ein eigenes Tool entwickelt.
Wo, wann, wie viel: Tool analysiert weltweite LNG-Transporte
Die Grundlage für dieses Tool ist eine öffentliche Datenbank: Auf der Webseite vesselfinder.com finden sich alle Schiffe, die – mit verschiedenen Ladungen – auf den Weltmeeren unterwegs sind. Jedes Schiff hat seine eigene Identifikationsnummer der International Maritime Organization (IMO). Anhand dieser Nummer lassen sich sämtliche Wasserfahrzeuge – vom Fischerboot über den Kreuzfahrtriesen bis hin zum LNG-Tanker – eindeutig bestimmen. Die Schiffe verwenden das sogenannte Automatic Identification System (AIS), das die aktuellen Positionsdaten sowie Ursprungs- und Zielhafen eines Schiffes übermittelt. Das ist ähnlich wie bei Paketlieferungen, die man mit einer spezifischen Identifikations- oder Sendungsnummer ebenfalls nachverfolgen kann.
So weit, so gut. Allerdings nützen diese unzähligen, unstrukturierten Datenpunkte dem Handel der BKW noch nicht wirklich viel. Nicht zuletzt, weil die Händlerinnen und Händler schliesslich nicht den ganzen Tag am Bildschirm nach LNG-Tankern suchen und deren Routen verfolgen können. Deshalb kann das Tool vom Team Analyse Handel die Daten systematisch sammeln, organisieren und auswerten. Fabian Gottschlich, Analyst Handel bei der BKW, leitet das Projekt. Er erklärt: «Dieses Tool filtert nach der Ware an Bord der einzelnen Schiffe und kumuliert die Daten nach Wunsch.» Sprich: Die BKW ist nicht an Spielwaren aus China interessiert, sondern an LNG-Tankern. Von denen gibt es rund 660, die ständig irgendwo auf den Ozeanen umherschippern.
Flüssigerdgas – englisch Liquefied Natural Gas oder kurz LNG genannt – ist Erdgas, das durch Abkühlung auf -161 bis -164 Grad Celsius flüssig wird. Dadurch ist es flexibler im Transport: Denn während herkömmliches Erdgas hauptsächlich durch fix gebaute Pipelines befördert wird, fährt Flüssigerdgas meistens auf grossen Spezialtankern um die ganze Welt. Ein voll beladener 170’000 Kubikmeter grosser LNG-Tanker transportiert etwa 72’000 Tonnen Flüssigerdgas. Das ist genug, um mehr als die Hälfte aller britischen Haushalte einen Wintertag lang zu heizen.
Die LNG-Tanker sind häufig wochenlang unterwegs. So dauert zum Beispiel eine Reise von Houston in den USA nach Zeebrügge in Belgien rund zwei Wochen. Ab- und anlegen können die Schiffe an entsprechend ausgestatteten LNG-Häfen. In Europa gibt es derzeit rund 29 solche Anlagen, zum Beispiel eben in Zeebrügge, aber auch in Rotterdam (Niederlande), Dünkirchen (Frankreich) oder Barcelona (Spanien). In Deutschland sind die ersten LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel geplant. Durch diesen Ausbau von Transport- und Lagerinfrastrukturen für Flüssigerdgas erhöht Europa somit einerseits seine Bezugsquellen für Erdgas. Andererseits kann es seine Gasversorgung auch einfacher auf andere Länder ausweiten.
LNG-Schiffe mit einem sehr kleinen Ladevolumen sollen aber zum Beispiel nicht berücksichtigt werden. Ausserdem klassifiziert vesselfinder.com selbst die Schiffe auch nicht immer korrekt. Deshalb gleicht das Tool der BKW die Daten von vesselfinder.com noch mit anderen Datenbanken ab, um alle für den Energiehandel der BKW relevanten Schiffe so präzise wie möglich zu identifizieren. Diese Analyse zeigt, dass ausser LNG-Tankern teilweise auch andere Schiffe Flüssigerdgas transportieren können. Aus den kombinierten Filterkriterien ergeben sich schliesslich rund 700 Schiffe – inklusive der rund 660 LNG-Tanker – die das Tool der BKW täglich verfolgt: Einmal pro Nacht fragt es ab, wo sich welches Schiff befindet, woher es kommt und wann es in seinem Zielhafen eintreffen wird. Fabian Gottschlich sagt: «Der Fokus der BKW für die weiterführende Analyse liegt dann natürlich auf Schiffen, die auf dem Weg nach Europa sind. Mein Arbeitskollege Aurelio Dolfini und ich haben ein Konzept entwickelt, um diese Informationen möglichst verdichtet unseren Händlerinnen und Händlern zur Verfügung zu stellen.»
Von der Infoflut zur fundierten Prognose
Und das funktioniert so: Aus den Informationen, die das Tool in der Nacht abgefragt und strukturiert hat, erstellt das Team Analyse Handel jeden Morgen eine automatisierte E-Mail an die Energiehändlerinnen und -händler: Welche Schiffe haben seit gestern ihre Richtung geändert? Fahren sie nun in Richtung Europa oder woanders hin? Wie viele Schiffe sind gestern angekommen? Und wie viele Tanker sind momentan unterwegs nach Europa? Ergänzend dazu zeigt eine interaktive Karte die aktuelle Position der Schiffe auf dem Weg nach Europa, ihre erwartete Ankunftszeit, ihre letzte Positionsaktualisierung, ihren Zielhafen, ihre LNG-Beladung sowie ihre IMO-Nummer.
In einem nächsten Schritt analysiert das Tool jene Schiffe genauer, die noch keine definitive Destination hinterlegt haben. Diese Tanker sind flexibel: Wenn sie sich zum Beispiel schon im Atlantischen Becken befinden, können sie entweder nach Europa fahren oder aber ihre Zielrichtung noch ändern. «Das Tool bestätigt die Route dieser Tanker, wenn sie an mindestens zwei aufeinanderfolgenden Tagen in Richtung Europa steuern. Erst dann kommen diese Schiffe in die ‘Tanker-Kollektion’ mit Zielregion Europa», so Gottschlich. Auf der interaktiven Karte hellblau markiert sind alle Schiffe, die in den letzten 24 Stunden ihr Ziel in Richtung Europa geändert haben. Blau sind die Schiffe, die bereits vorher Kurs auf Europa hatten. Und Schiffe, die keine AIS-Destination hinterlegt haben, sich aber gemäss dem entwickelten Algorithmus auf dem Weg nach Europa befinden, sind grün eingefärbt. Natürlich werden nur Schiffe berücksichtigt, die auch tatsächlich Flüssigerdgas geladen haben. Dieses «Ladungskriterium» wird anhand des Tiefganges des Schiffes bestimmt: Je tiefer ein Schiff im Wasser liegt, desto mehr LNG hat es geladen.
Damit ist aber noch nicht genug: Das Tool zeigt nicht nur den aktuellen Stand, sondern berechnet auch, welche Tanker mit welcher Ladungsmenge an Flüssigerdgas in den darauffolgenden Wochen in Europa ankommen sollten. So ermöglicht das Programm jederzeit einen Überblick darüber, wie viel LNG gerade unterwegs nach Europa ist und wie viel es an jedem Tag über die letzten drei Wochen war. Fabian Gottschlich fügt hinzu: «Für die BKW bietet das Tool damit eine wertvolle Entscheidungshilfe bei der Bewirtschaftung der Erdgasposition. Es ist ein wichtiges Puzzle-Teil, um Gas im richtigen Moment am Markt zu kaufen oder zu verkaufen.»
Das Tool will das Team Analyse Handel nun fortlaufend weiterentwickeln. Zum Beispiel, um Informationen zu den aktuellen Wetterbedingungen noch besser zu nutzen. Damit kann das Tool beispielsweise überprüfen, ob ein LNG-Tanker sein angegebenes Ankunftsdatum überhaupt noch einhalten kann – oder er wegen eines Unwetters seine Route ändern muss und deshalb verspätet am Zielhafen eintreffen wird.
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