Seit der russischen Invasion in die Ukraine reden alle über eine mögliche Strommangellage in Europa – und über Energiepreise. Beides hängt zusammen: Sinkt das verfügbare Angebot an Brennstoffen und Strom, gehen deren Preise hoch. So sind die Gas- und Strompreise seit Februar 2022 europaweit massiv angestiegen. Um einer Energieknappheit im Winter 2022/2023 vorzubeugen, haben die Länder unterschiedliche Strategien: Die Schweiz hat unter anderem mit einer Wasserkraftreserve vorgesorgt, während Deutschland Erdgas beschafft hat, um seine Gasspeicher zu füllen. Und weil in Frankreich zusätzlich nur etwa die Hälfte der Kernkraftwerke Strom produziert, hat Deutschland eine Kehrtwende bezüglich seiner eigenen Kernreaktoren Isar-2, Neckarwestheim-2 und Emsland vollzogen. Will heissen: Die drei Kernkraftwerke, die eigentlich per Ende 2022 endgültig hätten vom Netz gehen sollen, dürfen nun bis am 15. April 2023 weiter Strom produzieren.
Die drei Kernkraftwerke kommen zusammen auf knapp 4.3 Gigawatt (GW) Leistung und produzieren jährlich rund 33.2 Terawattstunden Strom. Zum Vergleich: Das entspricht etwa der Hälfte des Schweizer Stromverbrauchs im Jahr 2021. Ab Ende 2022 sollen die drei Reaktoren, von denen zwei in Süddeutschland stehen, in einem Streckbetrieb fahren – also so lange laufen, bis der Brennstoff leer ist. Vor allem die süddeutschen Anlagen könnten damit einen Beitrag zur Netzstabilisierung leisten.
Die deutsche Regierung betont aber, dass der endgültige Ausstieg aus der Kernkraft per 15. April 2023 besiegelt sei: Im Winter 2023/24 brauche Deutschland keinen Strom aus Kernenergie mehr, weil es bis dahin deutlich mehr Erdgas, auch über eigene Flüssigerdgas-Terminals (LNG-Terminals), importieren will. Ausserdem sollen bis 2023 der Anteil an erneuerbaren Energien höher und das Stromnetz besser ausgebaut sein.
Die Schweiz ist keine Strominsel
Was aber hat zum Beispiel die Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke mit dem Schweizer Strommarktpreis und mit der BKW zu tun? Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass politische Entscheide oder die Verfügbarkeit von ausländischen Kraftwerken überhaupt eine Auswirkung auf Strommarktpreise in der Schweiz haben sollen. Aber weil die Schweiz in den internationalen Strommarkt integriert ist, sind die Schweizer Strommarktpreise eng an die Preise im benachbarten Ausland gekoppelt. Denn auch die Stromnetze der einzelnen europäischen Länder sind miteinander verbunden. Wenn nun in Deutschland mehr Strom produziert wird, dann kann auch mehr Strom in die Schweiz fliessen – und der Preis sinkt.
Für den Energiehandel der BKW gilt es deshalb, die Gegebenheiten in Europa zu beobachten, Marktgeschehnisse vorherzusehen und die Auswirkungen auf den Preis in den jeweiligen Ländern mit Modellen abzuschätzen.
Deutsche Kernreaktoren laufen länger – und die Preise fallen
Konkret hat das Team Analyse Handel der BKW die Verfügbarkeit der deutschen Kernkraftwerke in den eigenen Modellen fürs erste Quartal 2023 nach oben angepasst. Im folgenden Diagramm sind der bisherige Ausstiegsplan (hellblau) und der neue Ausstiegsplan (dunkelblau) aus der Kernkraft dargestellt. Die BKW nimmt einen linearen Abfall der nuklearen Leistung an. Genauer gesagt eine monatliche Reduktion der Höchstleistung von circa 4 Gigawatt (GW) um 300 Megawatt (MW) auf 2.8 GW im April 2023. Dies, weil die BKW nicht davon ausgeht, dass der Reaktor Emsland wegen niedriger Verfügbarkeit von Brennstäben im gesamten ersten Quartal 2023 am Kapazitätsmaximum laufen wird.
Dabei hatte der Handel der BKW – wie auch andere Marktteilnehmer – aufgrund von Medienberichten eine Laufzeitverlängerung der restlichen deutschen Kernkraftwerke bereits erwartet. Deshalb war der Beschluss Deutschlands grösstenteils schon früh in die Prognose der Strompreise eingeflossen.
Und die Auswirkungen der deutschen Kernkraftverlängerung auf den Strompreis in Deutschland und in der Schweiz waren gross, wie Berechnungen des Teams Analyse Handel der BKW zeigen: Am stärksten fällt der Effekt der verlängerten Laufzeit der drei Kernkraftwerke auf den deutschen Strompreis im Januar 2023 aus: Im Vergleich zur ursprünglichen Annahme «Kernkraft-Aus am 31. Dezember 2022» ergibt sich hier ein Minus von durchschnittlich 33.50 Euro pro Megawattstunde. Im März 2023 zeigen sich die niedrigsten Preiseffekte von rund 12 Euro pro Megwattstunde. Für die Schweiz sind die Auswirkungen des deutschen Entscheids auf den Strompreis zwar kleiner, aber dennoch bemerkenswert: Im Januar 2023 hat die Weiterproduktion der deutschen Kernkraftwerke einen preisdrückenden Effekt von durchschnittlich minus 14.20 Euro pro Megawattstunde.
Europa setzt auf die französischen Kernkraftwerke
Wie dieser Fall zeigt, beeinflusst die europa- und weltweite Verfügbarkeit von Kraftwerken und Brennstoffen auch die Strompreise in der Schweiz. Ein weiteres Beispiel sind die französischen Kernkraftwerke, die momentan gerade einen gegenteiligen Effekt auf den Strompreis haben als ihre deutschen Pendants: Die Produktion aus französischen Kernkraftwerken ist seit einiger Zeit unter Druck. Die Betreiberin rechnete zuletzt für das Jahr 2022 mit einer Kernstromproduktion von etwa 275-285 Terawattstunden – während sie ursprünglich gut 10 Terawattstunden mehr erwartet hatte. Die reduzierte Prognose folgt auf Streiks, welche die Wartungsarbeiten an einigen Reaktoren im Herbst 2022 verzögerten. Hinzu kommen verlängerte Stillstände von Reaktoren, die wegen Korrosionsproblemen repariert werden. Europa hofft derweil, dass Frankreich seine abgeschalteten Kernkraftwerke planmässig im Winter 2022/2023 wieder in Betrieb nehmen kann. Damit würde in einer angespannten Energiesituation wieder mehr Strom zur Verfügung stehen – und der Strommarktpreis voraussichtlich weiter sinken.
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