Die Schweizer Stromversorgung steht seit der Annahme der Energiestrategie 2050 vor einem Umbruch: Die Kernkraftwerke sollen schrittweise abgestellt und die Versorgung auf erneuerbare Energie umgestellt werden. Quasi als Nebenbedingung soll die Sicherheit der Stromversorgung gewahrt bleiben.
Die Regulierungsbehörde ElCom überwacht die Versorgungssicherheit in der Schweiz. Zu diesem Zweck erstellt sie periodisch in Zusammenarbeit mit der Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid Analysen zur Versorgungssicherheit. In diesen sogenannten «System-Adequacy-Studien» werden neben einem Basisszenario unterschiedliche Stressszenarien mit Kombinationen von Kraftwerksausfällen und Stromhandelsbeschränkungen modelliert und deren Effekte auf die Stromversorgungssicherheit simuliert.
Kritische Versorgungssituationen nicht auszuschliessen
In ihrer im Juni publizierten „System-Adequacy-Studie 2030“ kommt die ElCom zum Schluss, dass in den Basisszenarien die Versorgung gewährleistet ist, jedoch bei einer Verkettung unglücklicher Umstände sehr wohl kritische Versorgungssituationen auftreten können. Dabei hält die ElCom selber fest, dass die zugrundeliegenden Annahmen mit Unsicherheiten behaftet sind. Natürlich drängt sich die Frage auf, wie gross diese Unsicherheiten sind und welchen einen Einfluss diese haben könnten.
Um dies herauszufinden, hat die BKW die Szenarien im Sinne einer «Second Opinion» in einem eigenen Modell nachgerechnet. Um die Vergleichbarkeit sicherzustellen, hat sich die BKW hinsichtlich der unterstellten Annahmen an jenen der ElCom orientiert. Durch die Verwendung eines eigenen Modells kann die BKW einerseits die Resultate der ElCom-Studie nachvollziehen und anderseits durch das Variieren der Inputparameter auf ihre Robustheit prüfen.
Realistische Stressszenarien
Ausgangspunkt der Analyse sind unterschiedliche Szenarien. Dabei wird zunächst in einem Basisszenario der erwartete Normalzustand der Elektrizitätsversorgung angenommen. Dieses Szenario wird mit verschiedenen Wetterkonstellationen und Kombinationen von Kraftwerksausfällen simuliert. Danach wird in mehreren Stressszenarien ansteigend die Versorgungslage verschärft:
- Szenario 1: In Frankreich fallen 19 GW Kernkraft aus, in der Schweiz zudem das Kernkraftwerk Beznau II. Daneben sind die Importmöglichkeiten eingeschränkt, da sich einerseits der geplante Ausbau des Übertragungsnetzes in Deutschland verzögert und anderseits ein Leitungsdefekt die Verbindung nach Italien beschränkt.
- Szenario 2: Zusätzlich fallen sämtliche Kernkraftwerke (KKW) in der Schweiz aus.
- Szenario 3: Darüber hinaus fällt das Speicherkraftwerk Grande Dixence ganzjährig aus. Ausserdem kommt es zu stärkeren Importeinschränkungen aus Deutschland.
Die Szenarien wirken auf den ersten Blick sehr drastisch und kumulativ wenig wahrscheinlich. Historisch sind sie jedoch in Teilen schon aufgetreten: Im Winter 2016/17 musste zum Beispiel ein grosser Teil der französischen Kernkraftwerke wegen möglicher Probleme am Reaktordruckbehälter abgestellt werden, während gleichzeitig in der Schweiz KKW Leibstadt und Beznau 1 ausgefallen waren. Die von der ElCom gewählten Stressszenarien sind daher keineswegs abwegig.
Kritische Versorgung im späten Winter
Jedenfalls auf den ersten Blick ist die Schweizer Stromversorgung sehr robust aufgestellt. So liegt die kumulierte Kraftwerksleistung weit über der maximalen Nachfrage (sog. Spitzenlast). Bei näherer Betrachtung ist dies zu relativieren: Die Speicherkraftwerke stehen nur dann zur Verfügung, wenn sie mit Wasser gefüllt sind und tatsächlich produzieren können. Kritische Versorgungssituationen sind daher vor allem in den späteren Wintermonaten möglich, wenn die Stromnachfrage weiter hoch ist, während sich die Speicher langsam leeren (siehe BKW-Blogbeitrag dazu).
Diese Vermutung wird durch die Modellsimulationen gestützt. Abbildung 1 illustriert auf Basis der BKW-Modellrechnung die Entwicklung des Speicherinhalts in den ersten 12 Wochen des Jahres und die in den Stressszenarien fehlenden Energiemengen für die Schweizer Stromversorgung in derselben Zeitperiode. Im Basisszenario sowie im Szenario 1 gibt es gemäss der BKW-Simulation keine Engpässe im Sinne fehlender Energie – was mit den Ergebnissen der ElCom übereinstimmt.
In den Szenarien 2 und 3 hingegen kann sich die Situation drastisch ändern: Die Speicherstände sind schon Anfang des Jahres deutlich unter der Norm und sobald die ersten Seen leer sind, steht nicht mehr genügend Energie zur Verfügung (in Abbildung 1 der Verlauf der schlechtesten Wetterkonstellation). Zur Illustration des Ausmasses der Versorgungslücke wird in der Abbildung 2 der Verlauf des Szenarios 2 in Woche 7 gezeigt. Dabei ist zu erkennen, dass in diesem Szenario fast durchgängig Energie im Schweizer Stromnetz fehlt, und zwar im Mittel 1.5 GW oder 18% der Nachfrage (rot dargestellt).
Offensichtlich wird in dieser Situation auch die Abhängigkeit der Schweiz von Stromimporten. Wenn in einzelnen Stunden die Nachbarländer gar nicht liefern können, resultieren Fehlmengen von bis zu 60% der Nachfrage. Die Situation entschärft sich erst Ende März, wenn die Schneeschmelze einsetzt, weniger geheizt wird und die Sonne kräftiger scheint. Sollte ein solches, eher unwahrscheinliches Szenario eintreten, ist mit grossen wirtschaftlichen Schäden zu rechnen.
Eine zu tiefe Nachfrage unterstellt?
Unter der Verwendung gleicher Annahmen resultieren im BKW Modell ähnliche Resultate wie in der ElCom-Analyse: Während im Basisszenario sowie im Stressszenario 1 keine Versorgungsprobleme in der Schweiz entstehen, sind die fehlenden Strommengen in den Szenarien 2 und 3 beachtlich. Schliesslich aber stellt sich die Frage, ob die Annahmen im ElCom-Modell adäquat sind und wie sich die Resultate bei angepassten Annahmen verändern würden. Nach Ansicht der BKW sind folgende Annahmen der ElCom, die sich positiv auf die Versorgungssicherheit auswirken, eher unrealistisch:
- Sinkende Stromnachfrage: Bei der Stromnachfrage wird – vor allem aufgrund von Effizienzgewinnen – ein Rückgang bis 2030 unterstellt. Konkret geht die ElCom von einem Jahresverbrauch von 60.5 TWh aus. Die Annahme erscheint eher optimistisch: Einerseits sank der um die veränderlichen Wettereinflüsse korrigierte Stromverbrauch in den letzten Jahren nicht. So lag der witterungsbereinigte Verbrauch in den vergangenen 5 Jahren konstant bei etwa 63 TWh. Anderseits ist mit zunehmender E-Mobilität auch ein wachsender Stromverbrauch verbunden.
- Hoher Anteil von Winterproduktion bei der Photovoltaik (PV): Im Kontext der Forderung nach einer spezifischen Förderung von Winterproduktion nimmt die ElCom einen besonders hohen Anteil an PV-Winterproduktion an. Konkret unterstellt sie einen Anteil von 36 Prozent für das Winterhalbjahr 2030. Zum Vergleich: Die bestehenden Anlagen weisen einen Winteranteil von nur 25 Prozent auf – darauf basierend müssten sämtliche neuen Anlagen einen mittleren Winteranteil von 43 Prozent aufweisen – was praktisch nur mit Anlagen an Fassaden oder in grossen Höhen zu erreichen wäre.
Werden die beiden eher überoptimistischen Annahmen durch – nach Ansicht der BKW – realistischere Werte ersetzt, verändern sich auch die Resultate der Analyse. Besonders bedeutenden Einfluss hat die Höhe der Nachfrage. Wird die Nachfrage auf 64 TWh/a erhöht, steigt die fehlende Energiemenge im Szenario 2 (700 GWh Fehlmenge für schlechteste Wetterkonstellation) auf mehr als das Doppelte (1450 GWh). Eine niedrigere Winterproduktion der PV fällt dagegen weniger ins Gewicht (fehlende Energiemenge steigt um 200 GWh), da die PV in 2030 noch keinen sehr grossen Anteil an der Gesamtproduktion aufweisen dürfte.
Grosse Unsicherheiten in Nachbarländern
Daneben gibt es weitere kritische Unsicherheiten in der Simulation, die vor allem die Situation in bzw. im Verhältnis zu den Nachbarländern betrifft. So unterstellt die ElCom einen Kraftwerksausbau im Ausland, der sich im Wesentlichen an den politischen Ausbauplänen orientiert. Daran gibt es methodisch nichts auszusetzen, doch sind diese Pläne in der Praxis mit grossen Unsicherheiten behaftet.
Beispielsweise lahmt aktuell etwa in Deutschland der vorgesehene Ausbau der Windenergie, während der Kohleausstieg kürzlich forciert wurde. Daneben bestehen bei den grenzüberschreitenden Transportkapazitäten grosse Unsicherheiten. Diesbezüglich ist die Analyse der ElCom eher konservativ und unterstellt eine negative Entwicklung, v.a. bedingt durch das fehlende Stromabkommen mit der EU sowie durch den verzögerten Netzausbau innerhalb Deutschlands.
Mit einer Anpassung der Annahmen bezüglich Produktionskapazitäten im Ausland sowie den Importkapazitäten ändern sich auch die Resultate: Geringere thermische Kraftwerkskapazitäten im Umfang von insgesamt 6 GW in Frankreich und Deutschland haben einen spürbaren Einfluss auf die fehlende Strommenge im Szenario 2 (+300 GWh). Umgekehrt könnte man hinsichtlich der verfügbaren Importkapazitäten etwas optimistischere Annahmen unterstellen: Werden die minimalen Importkapazitäten aus Deutschland auf 350 MW angehoben (bei ElCom 0 MW), nimmt die fehlende Strommenge dagegen um rund 300 GWh ab.
Resilienz erhöhen: Ausbau der Winterproduktion nötig
Für die Schweizer Versorgungssicherheit kann die Situation in den Nachbarländern entscheidenden Einfluss haben. Wie stark die Resultate der Versorgungssicherheitsanalyse davon abhängen, illustriert ein Vergleich mit der vor 2 Jahren veröffentlichten Studie der Elcom fürs Jahr 2025. Dannzumal wurde ein deutlich schnellerer Rückbau der französischen Kernenergie angenommen. Der deutsche Kohleausstieg wurde dagegen nur in einem Stressszenario berücksichtigt.
In nur zwei Jahren hat sich die Ausgangslage grundlegend verändert: In der Studie für 2025 kam die ElCom noch zum Schluss, dass die Versorgungssicherheit in Frankreich in allen Stressszenarien gefährdet ist – was auch die Schweizer Versorgungssicherheit beeinträchtigen würde. Gemäss der aktuellen Studie hat sich die Lage in Frankreich aufgrund der Prognose einer langsameren Kernkraft-Abschaltplanung, eines verstärkteren Ausbaus der Erneuerbaren sowie höheren Importkapazitäten praktisch vollkommen entspannt. Was aber, wenn die Politik ihre Pläne abermals ändert?
Wettbewerbliche und technologieneutrale Ausschreibungen
Eine mittel- oder gar längerfristige Prognose der Schweizer Versorgungssicherheit ist in diesem Kontext äusserst herausfordernd. Die Schweiz kann ihre Versorgungssicherheit daher nur beschränkt auf den Entwicklungen im Ausland basierend planen. Eine sinnvolle Strategie sollte daher vor allem die Resilienz der Versorgungssicherheit adressieren: Wie kann die Schweiz ihre Versorgung unabhängig von den Entwicklungen im Ausland möglichst robust aufstellen? Konkret: Wie kann sie mehrtätige Perioden von ausfallenden Importmöglichkeiten auch in den späten Wintermonaten überbrücken (siehe hierzu BKW-Blog)?
Die Forderung der ElCom nach Massnahmen zum Ausbau der Stromproduktion im Winterhalbjahr zielen in die richtige Richtung. Damit aber ist der Gesetzgeber am Zug: Im Rahmen der Revision des Stromversorgungsgesetzes (StromVG) hat er die Möglichkeit, solche Anreize zu schaffen. Falls der Markt nicht die nötigen Investitionssignale gibt, könnten wettbewerbliche und technologieneutrale Ausschreibungen für Kraftwerke mit einem Nutzen für die Versorgungssicherheit ausgeschrieben werden – in vielen europäischen Ländern wurden solche Mechanismen längst geschaffen.
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